167) Nachhilfe für Ambitionierte

Beim letzten Gespräch mit meinem Ansprechpartner der Beratungsstelle für Firmengründer in Arvika ist mir durch eine kleine Bemerkung seinerseits einmal mehr bewusst geworden, wie unterschiedlich die Schulsysteme in Deutschland und Schweden sind, und dadurch auch die gesamte Atmosphäre in den beiden Ländern. Bei dieser Beratungsstelle habe ich vor einiger Zeit an einem ihrer kostenlosen Kurse teilgenommen, die einen Monat lang einmal die Woche abends stattfinden und bei denen man die Basics lernt, die man in Schweden für die Selbständigkeit braucht. Es geht um Rechtliches, Marketing, Buchhaltung und mehr. Viele nehmen daran teil, wenn sie eine Idee für eine selbständige Arbeit haben und die ersten Schritte lernen möchten. Mit meiner eigenen Firma „Projekt Schulabschluss“ (Webseite ist neu gestaltet) stehe ich nicht mehr am Anfang, aber der Kurs hat mir dennoch sehr viel gebracht, insbesondere bezüglich des schwedischen Steuersystems.

In diesem besagten Folgegespräch habe ich meinen Berater über alle Neuerungen und den aktuellen Stand informiert und unter anderem davon gesprochen, weiterhin Nachhilfe online in Deutschland zu geben. Und über meinen Plan, dies auch für schwedische Schüler anzubieten, die Deutsch lernen. Er fand die Idee gut, sprach bei der Zielgruppendefinition aber immer von den besonders ambitionierten Schülern, die dieses Angebot beanspruchen würden, um aus eigenem Interesse ihre sprachlichen Fähigkeiten noch mehr zu vertiefen. Der Gedanke, dass man Nachhilfe benötigen könnte, um ein gewisses Klassenziel zu erreichen, war ihm vollkommen fremd.

Mir ist dadurch ein weiteres Mal die (wenn auch manchmal unabsichtliche) Selbstverständlichkeit aufgefallen, mit der in Deutschland jedem, der den Ansprüchen des Lehrplans nicht genügt, suggeriert wird faul, unmotiviert und/oder dumm zu sein. Dadurch entstehen sehr, sehr tief sitzende Versagensängste und Zweifel an den eigenen Fähigkeiten in den ohnehin pubertätsgeplagten Jugendlichen sowie ein großer, für die Zukunft fest internalisierter Druck und Stress sich konstant anstrengen zu müssen, um auch nur mithalten zu können. Gleichzeitig haben manche andere, die Nachhilfe „nicht nötig“ haben, bewusst oder unbewusst das Gefühl zu „reichen“, besser zu sein, dem Normalzustand anzugehören und so weiter. In einem Land wie hier dagegen, wo der Normalzustand ist, dass jede/r von schulischer Seite die Mittel an die Hand bekommt, um den Abschluss zu schaffen, ohne dafür private Unterstützung zu benötigen, entsteht diese Atmosphäre des Vergleichs und des Drucks gar nicht erst, die sich dann ja auch im gesamten späteren Leben weiterzieht.

Kein einziger Schwede hat in irgendeiner Weise auch nur reagiert, wenn davon die Rede war, dass ich grundsätzlich Lehrerin bin und jetzt parallel dazu im Supermarkt an der Kasse arbeite. Keinerlei Überraschung im Gesicht, keine Frage, kein Kommentar. Da gibt es keinen Unterschied in der Wertigkeit der Arbeitnehmer in diesen unterschiedlichen Berufsfeldern, obwohl es selbstverständlich unterschiedliche Tätigkeiten sind. Das waren wirklich ausschließlich Menschen aus Deutschland und anderen Ländern, die das „Warum?“, das „Also jetzt nur übergangsweise, oder?“, das „Ah, um die Sprache zu lernen, oder?“ oder auch negativere Dinge gesagt haben, oder die das überhaupt in irgendeiner Weise auffällig fanden. Und sei es nur, dass ich es selbst erwähnt habe und sie es so empfanden, als würde ich den Umstand, diesen Job jetzt auszuüben, absichtlich und auf übertriebene Weise betonen. Wenn ich formuliert habe, dass ich „eigentlich“ Lehrerin bin, ging es mir dabei soweit ich weiß immer nur darum, dass meine Arbeit mit den Jugendlichen für mich persönlich eine Sinnerfüllung darstellt. Aber natürlich musste auch ich die in mir eventuell vorhandenen unterbewussten Klischees erst reflektieren. Diese Abwertung von Kassierern, die in Deutschland teilweise stattfindet durch Sätze wie „Schau, dass du dein Abi machst, sonst landest du bei Aldi an der Kasse“ (in Elterngesprächen so gehört) ist hier auf jeden Fall gefühlt komplett inexistent.

Mir ist der Einwand dagegen, der Hintergrund des Leistungsgedankens, natürlich klar. Die Befürchtung, dass im Land nichts mehr vorwärts geht, wenn man nicht mehr konstant im Wettkampf miteinander ist. Ich stelle aber fest, auch in Schweden „geht es vorwärts“. Die Lebenseinstellung von „Lagom“ – für jeden nicht zu viel und nicht zu wenig – und wirtschaftlicher Erfolg schließen sich entgegen kapitalistischer Ängste anscheinend nicht aus, wie man zum Beispiel bei der Staatsverschuldung oder dem in Schweden höheren verfügbaren Einkommen sieht.

Und auch hier werden diejenigen zusätzlich gefördert, denen sonst im Unterricht langweilig wäre. Eine Maßnahme, die unglaublich sinnvoll ist und trotzdem zumindest meiner Lehr-Erfahrung in Bayern nach vollkommen unüblich, ist zum Beispiel, dass es schon in der Grundschule in den Fächern Schwedisch und Mathe (teilweise auch später in anderen Fächern) die Schulbücher regulär in zwei oder sogar drei verschiedenen Versionen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden gibt. Die Lehrer müssen also nicht wie in Deutschland in Eigeninitiative zusätzliche Übungen und Arbeitsblätter für die ambitionierteren, gelangweilteren, schlaueren oder schnelleren Schüler (oder denjenigen am anderen Ende des Spektrums, denen das Schulbuch noch zu schwer ist) jeden Tag extra heraussuchen, kopieren und verteilen, sondern geben denjenigen einfach die andere Ausgabe des Lehrwerkes für den Unterricht.

Ich freue mich darauf, in nicht allzu langer Zeit an einer schwedischen Schule unterrichten zu können und das hiesige Schulsystem auch persönlich durch eigene Erfahrung kennenzulernen. Wie schon in meinem Artikel über die schwedische Hochschulreife angesprochen (Beitrag 160) gibt es da doch einige signifikante Unterschiede zu Deutschland und ich finde es sehr spannend, das zu vergleichen. Im besten Fall können ja, wenn schon nicht die gesamte Bildungspolitik, zumindest einige hier mitlesende Lehrerinnen und Lehrer vielleicht individuell kleine Änderungen vornehmen und sich eventuell ein bisschen was von Schweden „abschauen“. Ich selbst empfinde dieses Menschenbild, dass alle wirklich gleichwertig sind, in meiner selbständigen Arbeit als oberste Priorität: sei es in den Nachhilfestunden für Schule und Studium, den Projektmanagement-Workshops und dem Online-Unterricht an Schulen, dem mehrtägigen Seminar zur Abiturvorbereitung hier in Schweden (Termine in den Sommerferien 2024) sowie bei der Unterstützung von Unternehmen.

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