160) Die schwedische Hochschulreife

Mein finaler Kursteil im Rahmen der Erwachsenenbildung von Årjäng hat letzte Woche begonnen. Nach den SFI-Kursen A (den wir übersprungen haben, da es dort vorwiegend um das Erlernen des lateinischen Alphabets geht), B, C und D habe ich die Kurse Svenska som andraspråk („als Zweitsprache“) 1, 2 und jetzt 3 belegt. Diese sind vergleichbar mit der gymnasialen Oberstufe. Die Aufgabenstellungen der Muttersprachler sind dabei die selben, nur der Bewertungsmaßstab ist adaptiert.

Der Ablauf des bayerischen Abiturs im Fach Deutsch ist mir bekannt, daher ist es jetzt sehr interessant für mich, wie der entsprechende schwedische Abschluss zur Hochschulreife im Fach Schwedisch strukturiert ist. Und um es vorwegzunehmen: meiner Ansicht nach auf sehr sinnvolle Weise.

In Bayern ist die Oberstufe in die vier Halbjahre 11/1, 11/2, 12/1 und 12/2 aufgeteilt. Das gilt nur noch dieses kommende Schuljahr, denn durch die Rückkehr von G8 zu G9 wird es 2025 keine regulären Abiturprüfungen geben, und danach schließt die gymnasiale Laufbahn die 13. Jahrgangsstufe wieder ein, so wie bei meinem eigenen Abitur 2009.

Die Abiturprüfung im Fach Deutsch hat in Bayern verschiedene Auswahlmöglichkeiten:

  • Jedes Jahr bestehen die Optionen, literarische Texte der Gattungen Lyrik, Dramatik oder Epik zu analysieren.
  • Zudem besteht die Option, einen argumentativen Text in Form einer Erörterung oder eines Essays zu verfassen.
  • Die letzte Wahlmöglichkeit wird auf der Seite des ISB folgendermaßen beschrieben: „Die Prüflinge sollen entweder Informationen aus verschiedenen Materialien (z. B. Textausschnitte, Grafiken, Bilder) gewinnen und einen neuen Informationstext verfassen oder einen pragmatischen Text analysieren.“ Das erscheint mir im Hinblick auf die zu erwerbende Hochschulreife als die für ein Studium relevanteste Alternative.

Nun ist es aber wichtig zu sehen, wie diese vielen theoretischen Alternativen in der Realität im Unterricht umgesetzt werden. Ich persönlich habe bisher keine Oberstufe im Fach Deutsch geleitet (nur Ethik) und kenne die Vorgehensweise daher hauptsächlich von meinen Fachschafts-Kolleginnen und -Kollegen sowie aus meinen Nachhilfestunden für die Abiturvorbereitung im Fach Deutsch, ich würde mich daher für andere Ansichten interessieren. Mir scheint es, als würden sich sehr viele Jugendliche auf die Analyse von Lyrik oder Drama konzentrieren (um nicht zu sagen „versteifen“). Die anderen Optionen (also auch das materialgestützte Erstellen eines informativen Textes) werden gefühlt wesentlich seltener gewählt. Wenn ich eine offizielle Statistik dazu finde, füge ich sie hier ein.

Um die Klausuren in den vier Halbjahren der Oberstufe möglichst realitätsnah an der endgültigen Abiturprüfung zu orientieren, was ja verständlich ist, haben die Schülerinnen und Schüler auch in diesen beiden Jahren bereits meist die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen. Und sei es, weil sie sich dabei am sichersten fühlen oder es am meisten im Unterricht behandelt wird oder „Faust I“ die einzige Pflichtlektüre in Bayern ist bzw. war, fällt die Wahl eben auch da oft auf das Drama. Daraus folgt, dass man grundsätzlich die Hochschulreife erlangen kann, indem man in Deutsch fast ausschließlich Dramenauszüge oder Gedichte analysiert hat, und selbstverständlich gratuliere ich allen SuS, die das erreicht haben. (Das W-Seminar gäbe es teilweise zusätzlich, der Vergleich hier bezieht sich auf den Aufbau der Fächer Deutsch und Schwedisch.)

Hier in Schweden dagegen gibt es in allen drei Kursteilen verschiedene Module, in denen man Aufgaben einreicht, die durch die Lehrkraft akzeptiert werden müssen. Dabei handelt es sich beispielsweise schriftlich um Erörterungen, Literaturanalysen, sogenannte „utredande“ Texte (untersuchend/investigativ) und ebenso wichtig mündlich um Referate und Buchdiskussionen. Ohne jedes einzelne dieser Module erfolgreich abzuschließen, würde ich keinen der Kursteile bestehen und nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden. Man wird also in der Qualifikationsphase wesentlich vielseitiger ausgebildet, als im deutschen bzw. bayerischen System.

Auch der letztliche Abschlusstest selbst („nationella prov“, also nationale Prüfung) hat hier in Schweden keine Wahlmöglichkeit. Es handelt sich um einen Text der Sorte „PM“. Ich habe in meiner Schul-, Uni- und Doktoratszeit schon viele Texte geschrieben, aber musste erstmal recherchieren, was damit gemeint ist: Die Abkürzung steht für „pro memoriam“ und wird wie folgt beschrieben: „eine kurze, schriftliche Arbeit, die ein Thema überblicksmäßig präsentiert, so dass man in der Lage sein sollte, sich später an das zu erinnern, was man gedacht hat und woran man gearbeitet hat“.

Muster-PM

Meine erste Aufgabe der PM sollte beispielsweise die Überschrift „Die Bedeutung von Arbeiterliteratur“ haben, aber es sind nicht nur literarische, sondern auch gesellschaftliche Themen. Man erhält sechs Quellen zur Auswahl, von denen man mindestens zwei verwenden muss. In einer Einleitung soll das Thema vorgestellt, daraufhin die Quelltexte exzerpiert und abschließend eigene Gedankengänge dargelegt werden, dazu gehören die Literaturangaben in korrekter Zitation. Nur SO besteht man in Schweden sein Abitur und DAS verstehe ich unter Hochschulreife. Denn die Fähigkeit zur Erstellung eines solchen Textes ist in quasi ALLEN Studiengängen erforderlich, während man mit der sprachlich-stilistischen Anaylse einer Theaterszene aus der Weimarer Klassik nunmal in den meisten Berufsfeldern nicht allzu viel anfangen kann… Verständlicherweise leidet darunter die Motivation, so dass die Nachhilfe sich auch mit der „Wozu brauch‘ ich das?“-Problematik befassen muss.

Das alles ist ein weiterer Punkt, den Schweden in meinen Augen einfach besser löst als Deutschland. Ich freue mich über Austausch dazu, vielleicht mit anderen Lehrkräften, denn eventuell übersehe ich ja etwas. Meine erste Übungsaufgabe zur PM wurde übrigens von meiner Lehrerin noch nicht akzeptiert, die qualitativen Ansprüche für diese kurze Aufsatzform sind auch schon als Zweitsprache hoch. Ich werde ihr Feedback berücksichtigen, den Text überarbeiten und erneut einreichen.

Zusammenfassend: Obwohl es in Bayern im Deutsch-Abi theoretisch eine Aufgabe gäbe, die auf die Anforderungen im Studium vorbereitet, wird diese kaum gewählt (und auch kaum unterrichtet?). In Schweden dagegen MUSS man einen derartigen Text als Abschlussarbeit verfassen, wird für diese aber gar nicht erst zugelassen, wenn man in den vorherigen Modulen nicht auch zusätzlich umfassende literarische Kenntnisse etc. nachweisen konnte (um dem Allgemeinbildungs-Argument zuvorzukommen im Sinn von „Es schadet niemandem, Goethe zu lesen“, dem ich zustimme). Das hiesige System erscheint mir daher aktuell moderner und praxisbezogener. Ich bin gespannt, wie es mit dem LehrplanPLUS zukünftig in Bayern aussehen wird.

Zwei Disclaimer: Erstens würde ich die Lehrkräfte, wenn diese wichtige Aufsatzform im Schulalltag „unter den Tisch fällt“, nicht per se als Schuldige betrachten, da es andauernd um Noten bzw. Punkte geht und man unter Zeitdruck leider priorisieren muss. Dafür ist das Schulsystem verantwortlich. Und ich beziehe mich zweitens hier auf Schülerinnen und Schüler, die sich aus freien Stücken für das Absolvieren der Hochschulreife entscheiden. Wer schon weiß, dass er einen Beruf ergreifen möchte, in welchem das Exzerpieren von Fachartikeln keine große Rolle spielt, sollte sich niemals zum Besuch der Oberstufe verpflichtet fühlen. Auch das macht Schweden übrigens besser und zwingt keine Zehnjährigen zu dieser Entscheidung: Hier besuchen alle Kinder die 1. bis 9. Klasse gemeinsam und wer möchte, schließt daran dann noch den Besuch eines Gymnasiums an…

9 Kommentare zu „160) Die schwedische Hochschulreife

  1. Ich unterrichte zwar nicht Deutsch, sondern Englisch, und das auch nicht in Deutschland, deshalb kann ich dazu leider nichts sagen, aber ich finde, das schwedische System klingt tatsächlich sinnvoll! Zur aktuellen Deutschmatura bei uns in Österreich weiß ich leider zu wenig, aber was wir haben ist eine sogenannte „VWA“, eine „Vorwissenschaftliche Arbeit“, die für die Matura zusätzlich zu den Maturafächern zu schreiben ist. In dieser lernt man (im Idealfall) all das mit Literaturrecherche, zitieren usw. und wird von Betreuungslehrern unterstützt. Man kann das schon im Jahr vor der Abschlussklasse beginnen (bei uns die 7.) und muss sie bis zur Matura abgeben und auch noch im Rahmen einer Präsentation vor Direktion und einem Kommitee vorstellen. Das ist ein guter Ansatz wie ich finde – auch wenn viele Punkte (noch) nicht perfektioniert und bis zum Ende durchdacht sind (z.b. unterschiedliche Schwerpunkte je nach Betreuungslehrer, kein einheitliches System zur Beurteilung usw.). Gut finde ich auf jeden Fall, dass man Schüler auf die weitere akademische Laufbahn vorbereitet!

    1. Ja, das war bei mir damals die Facharbeit und jetzt ist es das W-Seminar (für wissenschaftspropädeutisch). Das ist aber kein essentieller Bestandteil des Abiturs, da zum Beispiel staatlich genehmigte Schulen, die auch zum Abi führen, das nicht haben müssen. Deshalb finde ich den Ansatz mit dem Seminar grundsätzlich zwar nicht schlecht, aber noch sinnvoller wäre es vielleicht, das direkt in die für alle gleichermaßen aussehende Deutsch-Prüfung aufzunehmen wie hier, dachte ich mir…

    2. Ja das stimmt! Bei uns ist die VWA zumindest verpflichtend, ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung 😉

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