59) Zwischen Amateuren, Experten und Eigenverantwortung

Ein Gastbeitrag von meinem Mann.

„Schweden ist das Land der Amateure“, sagte uns vor einiger Zeit ein Bekannter, der in Deutschland Revierleiter in einem Forst ist. Er bezog sich dabei auf das teilweise tatsächlich katastrophale Forstmanagement der Schweden. In einigen Regionen, insbesondere in Nordschweden, wird hemmungslos und ahnungslos Kahlschlag betrieben; Tier- und Ökosphärenschutz sind da Glückssache. Deutschland ist in einigen Bereichen, wie eben im Forstmanagement, sicher das Land der Experten.

Das großflächige Verzichten auf Reglementierungen und das Setzen auf Eigenverantwortung hat in der Tat gute und schlechte Seiten. Wir haben den Eindruck, dass die Schweden ziemlich gut mit dem Konzept der Eigenverantwortung fahren. Das ist aber natürlich zu einem gewissen Grad auch Erziehungssache.

Deutschland mag das Land der Experten sein, aber auch das des Kettensägenführerscheins, der Zertifikate und der Angelscheinprüfung (für die man in Bayern sogar die Schulbank drücken muss). Ab einem gewissen Grad der Reglementierung stehen der Eigenverantwortung einfach hohe Hürden im Weg.

Hier in Schweden geht man Angeln, man kauft sich eine günstige, regionale Lizenz, und los geht’s. Hier kann man, wie unsere Nachbarin, aus einem Hobby als Bäcker einen Beruf machen, ohne einen Meisterbrief vorweisen zu müssen. Kurz: hier „darf“ man alles Mögliche einfach machen, wofür man in Deutschland Schein, Lizenz, Zertifikat, behördliche Erlaubnis oder sonst etwas braucht.

Ob einen das mit Unbehagen füllt, ist wie gesagt zu einem gewissen Grad anerzogen. Wenn man im Alltag nur dem bescheinigten Experten Kompetenz zutraut, macht man sich selbst und andere Amateure schnell unmündig. Man kann für jede Kleinigkeit „jemanden holen, der sich damit auskennt“, oder man verwendet ein bisschen seiner Zeit und Energie darauf, sich selbst Kompetenzen anzueignen.

Die schwedische Mentalität, wie wir sie hier kennen lernen, ist eher eine Machermentalität und weniger eine Machenlassermentalität. Auch für uns ist das neu und ungewohnt, aber es bietet uns eine hervorragende Möglichkeit, in vielen Bereichen zu wachsen.

Die schwedische Mentalität, die wir hier kennen lernen, dramatisiert Fehler auch nicht übermäßig. Wir beobachten mehr Stoizismus in den Menschen und es wird fast nicht gejammert, egal worüber. Zum ersten Mal ist uns das so richtig bei der Elchjagd im letzten Herbst (Beitrag 20) aufgefallen. Die Jagdgruppe besteht größtenteils aus eher alten Menschen, der eine oder andere hat auch schon einen Hüftschaden, humpelt oder ist insgesamt nicht mehr so stabil. Die Treibjagd-Gänge durch Wälder, über Hügel und durch unwegsames Terrain haben aber alle erstaunlich gut verkraftet – es hat sich uns eine ganz andere Grundhaltung der Menschen gezeigt als das, was wir diesbezüglich aus Deutschland im Großen und Ganzen gewohnt sind.

Das führt mich zu einem wichtigen Thema, was die Eigenverantwortung in der schwedischen Psyche sicher zusätzlich unterstützt: das hiesige Gesundheitssystem.

Es gibt in Schweden keine Hausärzte, zu denen man einfach hingehen kann. Bei Gesundheitsfragen wird oft zuerst die nationale telefonische Gesundheitshotline angerufen. Dort spricht man mit einer Krankenschwester (die haben hier in Schweden ein Studium hinter sich und haben erheblich mehr Kompetenzen, als in Deutschland), die schon erste Ratschläge erteilen kann. Ist es dann trotzdem nötig, persönlich in Augenschein genommen zu werden, gibt es die so genannte „Vårdcentral“ in den meisten größeren Städten. Dort gibt es einen diensthabenden Arzt, der aber nicht fest zugeteilt ist, sondern es kann sein, dass man bei einem späteren Besuch von einem anderen Arzt behandelt wird. Bevor man allerdings zum Arzt „vorgelassen“ wird, spricht man wiederum mit einer Krankenschwester, die schon eine erste Diagnose stellt. Es kann dann sein, dass ein Vorsprechen beim Arzt dann gar nicht mehr stattfindet, sondern die Krankenschwester schon Medikation und Therapie verschreibt und man wieder nach Hause geht. Nur bei entsprechend ernsten medizinischen Sachverhalten kommt der Arzt zum Zug.

Was ist hier also der größte Unterschied im Vergleich zu Deutschland? Man wird hier erst einmal als grundlegend gesund betrachtet; es muss sich zeigen, ob es stimmt, dass man krank ist, so wie man es denkt oder behauptet. In Deutschland ist man krank und geht zum Arzt, der einem das bitteschön zu bestätigen hat. Ärztliche Kapazitäten werden in Hausarztpraxen oftmals von Patienten blockiert, die streng genommen nicht dort sein müssten. Selbst in Notaufnahmen der Krankenhäuser blockieren Bagatelle viel zu oft die Kapazitäten der Ärzte, so dass für diejenigen, die es wirklich brauchen, weniger Ressourcen vorhanden sind.

Das Setzen auf Eigenverantwortung hat auch während der Corona-Zeit in Schweden recht gut funktioniert. In Deutschland schlugen in der Medienberichterstattung darüber vor allem Unverständnis und Unbehagen durch. Oftmals auch in Form einer polemischen Art von Schweden-Bashing (wie unverantwortlich, den Menschen die Eigenverantwortung zu lassen). Jetzt, wo mit etwas Abstand die medizinischen, finanziellen und gesellschaftlichen Folgen des Handelns während der Corona-Zeit besser bewertbar sind, zeigt sich klar, dass diese Berichterstattung in Deutschland unangemessen war und vielleicht vor allem dazu gedient hat, das eigene Handeln und dortige gesellschaftliche und mediale Narrativ zu stützen.

Aktuelle Daten des „World Happiness Report“ und der gerade veröffentlichte Bericht der „Reporter ohne Grenzen“ zur Pressefreiheit zeigen, dass Schweden als Land, das auch in schwierigen Zeiten auf Selbstverantwortung und ein Grundprinzip der möglichst großen Freiheit gesetzt hat, gut fährt.

Probleme gibt es in Schweden selbstverständlich auch. Wie überall gilt auch hier: je genauer man hinschaut, umso mehr kann man kritisieren.

Es mag in manchen Situationen leichter sein, immer gesagt zu bekommen, was man tun soll und darf. Reglementierungen und Bürokratie schaffen manchmal auch ein Gefühl der (scheinbaren) Sicherheit. Gesellschaftliche Freiheitswerte bleiben aber ein abstraktes Konzept, wenn man nicht davon ausgeht, dass die Menschen fähig sind, in vielen Bereichen Eigenverantwortung zu zeigen. Diese Eigenverantwortung traut Schweden als politischer Akteur seinen Bürgern aber zu. In einem Weltklima, was überwiegend von Angst und Zwiespalt geprägt wird, ist das nicht selbstverständlich.

Wir sind froh, hier zu sein.

5 Kommentare zu „59) Zwischen Amateuren, Experten und Eigenverantwortung

Hinterlasse einen Kommentar