153) Über Leben und Tod

Vor zwei Tagen hatten wir ein unschönes Erlebnis, das mich zum Nachdenken gebracht hat.
Mit dem Auto auf dem Weg zurück vom Fitnessstudio zu uns nach Hause kam uns vor einer Kurve ein ziemlich langsam fahrendes Auto entgegen. Als wir um die Kurve gebogen sind, haben wir auch gesehen, warum – uns hat sich auf der Straße ein kleines Massaker präsentiert. Der Fahrer hat anscheinend vier Enten überfahren. Zwei waren platt, die Gedärme auf der Straße verteilt, die anderen beiden haben noch mit den Flügeln geschlagen und versucht, zu fliehen, konnten aber nicht mehr. Ich habe also angehalten, Warnblinker an, und bin zu den Enten zurückgegangen. Die beiden toten Enten habe ich in den Graben geworfen, eine der beiden anderen ist irgendwie ins Dickicht geflüchtet, als ich sie wegtragen wollte (keine Ahnung, ob die dann letztlich überlebt hat oder nicht). Die vierte Ente ist letztlich panisch im Kreis herumgelaufen, hat die Straße, meine Beine und Schuhe vollgeblutet und war demzufolge in keinem guten Zustand mehr. Auch ein Flügel war sichtbar gebrochen. Ich habe sie dann irgendwie packen können und wusste erst nicht, wie ich sie am besten erlösen soll. Ich habe letztendlich einen großen Stein genommen, ihn auf dem Kopf platziert und kräftig draufgetreten. Das alles war keine sehr schöne Erfahrung.
Als die Ente schon tot war, hat noch ein älteres Ehepaar angehalten und mir eine Axt geben wollen, die sie für solche Fälle immer im Kofferraum haben. Leider etwas zu spät.
Mal davon abgesehen, dass es mich schmerzt, Tiere so leiden zu sehen, haben mich an der Situation zwei Dinge gestört: 1. dass der Verursacher des Unfalls nicht selbst angehalten und Verantwortung übernommen hat, und 2. dass ich die Ente nicht schneller und souveräner töten konnte. Die Lehre aus Punkt 2 ist, dass wir uns jetzt eine kleine Handaxt bestellt haben. Die und ein Messer werden wir dann immer im Kofferraum dabei haben, wenn es mal wieder nötig ist, Verantwortung für einen Unfall von jemand anderem zu übernehmen… oder falls uns selbst mal so etwas passiert. Punkt 1 verbuche ich unter schlechtem Charakter und kognitiver Dissonanz.

Wildunfälle sind hier tatsächlich sehr häufig. Oft liegen Vögel, Füchse, Dachse, und andere kleine Tiere am Straßenrand – von den plattgefahrenen Fröschen gar nicht zu reden. Dazu kommt auch die Art von Unfällen, bei denen das Auto oft nicht einfach weiterfährt – mit Reh- oder anderem Wild. Im schlimmsten Fall mit einem Elch, das geht oft für beide beteiligten Seiten schlimm aus. 20% der Autounfälle in Schweden werden von einem Elch (und einem Auto) verursacht. Auch aus diesem Grund haben wir inzwischen unser Auto mit einer LED-Strahler-Leiste (Beitrag 125) nachgerüstet. Zum Selbstschutz und zum Tierschutz.
Gerade heute habe ich fast das nächste Drama erleben müssen. Zwei Motorradfahrern, die etwa 50 Meter vor mir waren, ist ein dicker Dachs vor die Räder gemoppelt. Haben beide gut reagiert, ein bisschen Glück gehabt, und so ist niemand zu Schaden gekommen.
Jedenfalls ist das Autofahren bezüglich Unfällen mit Tieren hier wirklich eine andere Hausnummer als in Deutschland, so entspannt es davon abgesehen auch sein mag, hier auf den ländlichen Straßen unterwegs zu sein.

Ich habe die Situation mit den Enten bewusst ungeschönt beschrieben, weil eine solche Situation den meisten wohl fremd ist. Wir leben in einer Zeit, in der der Tod ein Tabuthema geworden ist. Wir schieben den Gedanken an den Tod beiseite oder verdrängen ihn komplett. Das ist kognitive Dissonanz: ein sozialpsychologisches Konzept (maßgeblich geprägt von Leon Festinger), das besagt, dass der Mensch versucht, unangenehme Gedanken, die durch Gegensätze in seinem Erleben zustande kommen, aufzulösen. Diese Auflösung kann zum Beispiel typischerweise durch das Verdrängen und Ignorieren von Fakten geschehen.
Wir alle wissen, dass wir sterben müssen, aber wir wollen es nicht sehen.
Wenn wir mit Alter, Krankheit und Tod anderer Menschen, die uns nahestehen, konfrontiert sind, schieben wir das Problem oft in ein Pflegeheim ab, wo wir es nicht sehen und vergessen können.
Wenn wir an unsere eigene Sterblichkeit denken, schauen wir weg, anstatt eine Patientenverfügung oder ein Testament anzufertigen. Anstatt uns vorausschauend ein Mindestmaß an Selbstpflege in Form von Bewegung und Ernährung zukommen zu lassen, geben wir uns dem hedonistischen Genuss im Moment hin – „man muss sich ja auch mal was gönnen“, sprach die fette Frau und bestellte noch ein Stück Torte. Auch bei Rauchern und beim Bier „aus Genuss“ oder „weil es dazu gehört“ zeigt sich die kognitive Dissonanz mit ihrer hässlichen Fratze.

Aber nicht nur, wenn es um den menschlichen Tod geht.
Wir wollen Ökostrom, aber wir wollen auch, dass die Fische ihre Laichwege behalten und nicht von Wasserkraftwerken gebremst werden. Wir wollen Windenergie, aber bitte NICHT BEI UNS, das sieht so hässlich aus.
Wir mögen Tiere eigentlich ganz gern, haben selber vielleicht sogar so einen Mops zu Hause – aber ein Tier schlachten, das könnten wir NIE. Lieber kaufen wir das Fleisch hygienisch abgepackt im Supermarkt, da sieht man auch nicht mehr das Gesicht, was das Tier mal hatte.
Oder wir essen gar keine tierischen Produkte mehr, weil das grausam ist, irgendwie. Dafür essen wir eben Pasta aus Monokulturen, wo nicht mehr viel lebt wegen der ganzen Pflanzenschutzmittel. Dafür werden aber ein paar Bambis beim Abmähen des Getreides geschreddert. Klar, es gibt inzwischen einzelne Bauern die vorher die Felder mit Drohnen kontrollieren. Aber wenn man bei denen einkauft, ist das so teuer. Dann bleibt kein Geld mehr für das neue Iphone übrig (Kinderarbeit wird verdrängt, kein Problem), und eigentlich ist auch der nächste Yoga-Urlaub in Portugal, oder besser noch auf Bali, wichtiger. Noch eine hübsche Yogahose aus dem Sweatshop gekauft, und ab gehts (wieder: „man muss sich ja auch mal was gönnen“). Manche nennen das Lifestyle und präsentieren es auf Instagram. Ich nenne das Wohlstandsverwahrlosung.

Die meisten Menschen leben in einem städtischen Umfeld, in dem in kurzer Zeit (zwei, drei Generationen) der Bezug zum Tod extrem problembehaftet geworden ist. Aber nicht nur das. Auch der Bezug zum Leben ist kaum noch da.
Der Mensch lebt in kleinen Boxen in einer Form der Massenmenschhaltung (danke Sascha Fast für den Begriff), weiß weder, wie es ist, wenn man ein Tier umbringt, um es dann zu essen, noch wie man eigentlich das Gemüse anbaut, das man immer im Supermarkt kauft. Wie man traditionell Wurst macht, Butter herstellt, Käse macht, überhaupt ohne Convenienceprodukte kocht? Tja. Wir sind willfährige Opfer einer großen Konsummaschine geworden, die uns das Denken abnimmt und sagt, was gut und was schlecht für uns ist, wer gerade gut und böse ist. Das wechselt zwar öfter mal, aber da kann man sich dann wiederum auf die Überwindungsmechanismen der kognitiven Dissonanz verlassen. Was interessiert mich schließlich mein Geschwätz von gestern?

Wer zum Kern seiner Menschlichkeit vordringen will, kommt nicht umhin, sich wissend, kompetent und selbstbestimmt zu Leben UND zu Tod zu stellen.

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