181) „Aber was ist dann mit denen, die mehr Unterstützung benötigen?“

Ich hatte einen weiteren Arbeitstag in einer Vorschule, und ein weiteres Mal gab es eine Situation, die die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem schwedischen Bildungssystem sehr deutlich macht. Ich war diesmal in der Gruppe der Drei- bis Fünfjährigen, wir waren zwei Erwachsene und sechs Kinder. Es waren nicht alle da, die normalerweise in dieser Gruppe sind, aber auch an normalen Tagen ist der Betreuungsschlüssel wesentlich besser, als ich es aus Deutschland kenne. Aber das war noch nicht das Auffällige, das ist inzwischen ja schon überhaupt keine Überraschung mehr. Insgesamt hat es wieder sehr viel Spaß gemacht; es war lang her, dass ich das letzte Mal zum Beispiel mit Salzteig gebastelt habe…

Die Kollegin, mit der ich an diesem Tag gearbeitet habe, ist ebenfalls Aushilfe und pensionierte Schulbegleiterin. Mehrere Jahre lang hat sie einen Schüler, der eine Lernbeeinträchtigung hatte, jeden Tag durch seine Schullaufbahn begleitet und ihn unterstützt.

Im Gespräch habe ich ihr gegenüber erwähnt, wie positiv es mir an einem meiner früheren Arbeitstage aufgefallen ist, dass in der dritten Klasse bei 19 anwesenden Kindern zusätzlich zur Lehrerin im Klassenzimmer drei weitere Erwachsene waren, die einzelnen Schülern geholfen haben. Ich habe ihr gesagt, dass das in Deutschland nicht üblich ist und – zumindest, soweit ich es aus Bayern kenne – in den allermeisten Fällen eine Lehrkraft mit teilweise über 30 Kindern alleine im Raum ist. Nur wer sich beispielsweise auf dem autistischen Spektrum befindet, erhält eventuell eine Schulbegleitung.

Ganz verwundert hat sie mich angeschaut und gefragt: „Aber was ist denn dann mit denjenigen, die mehr Unterstützung benötigen?“, und ich konnte nur hilflos mit den Achseln zucken und sagen, ja genau, was passiert mit denen, das ist ja genau das Problem. Sie konnte es nicht nachvollziehen. Diese Reaktion erleben wir hier öfter, dass schwedische Menschen sich eine schlechtere (Bildungs-)Politik kaum vorstellen können und ihnen manchmal fast gar nicht bewusst ist, wie gut sie es hier in vielen Bereichen haben.

Denn was passiert in Bayern mit denjenigen Schülerinnen und Schülern, die in Schweden eine Schulbegleitung bekämen? Mit denen, die beispielsweise einfach länger brauchen, um den Stoff zu verstehen oder mit denen, die nicht so lange still sitzen können beispielsweise? Meiner Erfahrung und Einschätzung nach würden sie zunächst meistens erstmal zusätzliche Arbeitsblätter bekommen. Die Lehrkräfte würden sich untereinander austauschen, ob das in anderen Fächern auch so problematisch ist. Man würde vielleicht ein Gespräch mit den Eltern vereinbaren, eventuell würden diese sich um private Nachhilfe kümmern, wenn sie es zahlen können. Der Schüler würde vielleicht in Förderstunden gehen, aber wenn die Noten weiterhin schlecht bleiben, würde er letztlich durchfallen. Dadurch würde er aus seinem Freundeskreis in der Klasse gerissen werden und startet in seiner neuen Jahrgangsstufe als einer der ältesten Schüler und mit dem Image des „Durchfallers“, das teilweise sehr negative Auswirkungen auf das Verhalten haben kann. Sollten die Noten auch dann nicht wortwörtlich „ausreichen“, um zu „genügen“, muss er die Schule verlassen, seinen Alltag (Schulweg) und sein soziales Umfeld also komplett ändern, und gefühlt auf die „nächst-niedrigere“ Schulart gehen, was in manchen Fällen zwar die absolut richtige Entscheidung ist, aber sehr oft ein Gefühl des Versagens mitbringen kann (in Schweden gibt es diese verschiedenen Schularten nicht). Reicht es auch dort nicht zum Schulabschluss, hat er je nach Budget der Eltern vielleicht die Möglichkeit, auf privatem Weg an Lerninstituten den Abschluss zu machen. All das – und das ist keine allzu große Übertreibung – „nur“ deshalb, weil die Lehrkraft bei über 30 SuS in ihrer Klasse verständlicherweise nicht genug Aufmerksamkeit darauf richten konnte, ihm persönlich auf eine für ihn passende Weise Mathe beizubringen.

Dem Schüler, dem ich in der dritten Klasse einen Tag lang zugeordnet war, sind die schulischen Inhalte leicht gefallen. Er war, wenn er wollte, immer einer der Schnellsten beim Erledigen der Aufgaben. Aber es fiel ihm extrem schwer stillzusitzen und man hat gemerkt, wie sehr er – warum auch immer, sei es ein Defizit an Aufmerksamkeit daheim oder ein anderer Grund – von anderen beachtet werden wollte. Indem ich den gesamten Tag meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf ihn konzentrieren konnte, hat er sofort zu allem, was er gemacht hat, mein Feedback bekommen, ohne dass die Lehrerin reagieren musste und der Unterricht für die Klasse unterbrochen wurde. Er faltet aus dem (fast fertig gelösten) Arbeitsblatt einen Papierflieger und wirft ihn durch die Klasse? Ich bitte ihn sofort leise, ihn aufzuheben, gehe mit ihm hin, er holt den Flieger, setzt sich wieder, faltet ihn auseinander, wird aufgerufen und sagt die richtige Lösung der nächsten Aufgabe. Ich konnte ihm sofort die Aufmerksamkeit geben, für die er solche Aktionen ja letztlich macht. Ohne Begleitung (und wie gesagt, es gab noch zwei weitere Kandidaten in der Klasse) hätte ihm die Lehrkraft selbst diese Aufmerksamkeit geben müssen, dadurch wäre die gesamte Klasse abgelenkt geworden, und schon fliegen noch mehr Papierflieger aus allen Richtungen. So aber haben die anderen Kinder kurz den Flieger gesehen, aber da der Unterricht regulär weiterlief, war es nicht so relevant.

Es gibt meines Wissens keine ernstzunehmenden Einwände gegen diese pädagogische Vorgehensweise. Ein Argument wie „So viel individuelle Aufmerksamkeit kriegt der später im echten Leben auch nicht, der soll sich mal schön dran gewöhnen, dass er sich gefälligst an Regeln zu halten hat, ohne dass jemand ständig neben ihm sitzt“, finde ich veraltet und würde man in Schweden, glaube ich, nie hören. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das schon noch lernt.

Das sind jetzt alles keine großen Beispiele. Aber solche Situationen erlebt jeder Lehrer JEDEN. EINZELEN. TAG. Hundertfach. Das zermürbt und frustriert, denn die allermeisten Lehrkräfte, die ich kenne, würden jedem einzelnen Kind sehr gerne die Aufmerksamkeit geben, die es möchte, nur fehlt dazu schlichtweg auf Dauer die Kraft. Daher nochmal meine Aussage, die ich in einem früheren Beitrag schonmal gemacht habe: im PISA-Vergleich liegt Schweden ein paar Plätze vor Deutschland, nicht extrem signifikant. Aber ein Vergleich der psychischen Gesundheit von Lehrkräften und Kindern/Jugendlichen beider Länder würde meines Erachtens große Unterschiede zeigen.

Einer der größten Kritikpunkte an Deutschland, abgesehen vom Fehlen solcher Schulbegleitungen, für die man kein Geld ausgeben will, ist die Aufgliederung in drei verschiedene Schularten bereits in der vierten Klasse und die gesellschaftliche Interpretation der unterschiedlichen „Wertigkeit“ dieser Wege. In der vierten Klasse der Grundschule schwebt über den zehnjährigen Kindern, für die es so unfassbar wichtig wäre, einfach den Spaß am Lernen zu behalten, das Übertritts-Monster. Eltern gehen nicht selten juristisch gegen Lehrkräfte vor, wenn die Noten nicht ausreichen, um auf das Gymnasium – in viel zu vielen Familien immer noch die einzig wahre Schulart – zu wechseln. Eltern gegen Lehrer, Eltern gegen Kinder, Kinder gegen Lehrer und Eltern, Lehrer gegen ihr eigenes Schulsystem… Der Druck, der dabei auf allen Beteiligten lastet, ist unvorstellbar groß und gleichzeitig komplett selbstgemacht und wäre absolut unnötig, wenn Bildungspolitik („Kinder sind DIE Zukunft des Landes…“) eine ähnlich hohe Priorität hätte, wie in Schweden. Was denkt ihr darüber? Würde mich wirklich interessieren…

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